notes from the outer world.

Ostseewinter

Wieder Winter. Wieder die Füße auf den Steinen Rügens. Alte Traditionen, vertraute Orte, aber erst seit einigen Jahren das Gefühl unverdienten Luxus', dies tun, noch einmal, wieder dort sein zu dürfen. Die Welt verändert sich. Insgesamt. Und auch dort im Speziellen. Breiter und neuer die Straßen, voller die Parkplätze, voller auch die Waldwege abseits der Touristenpromenaden. Ewigkeiten zurück scheint die Zeit zu liegen, in der die Anreise von Berlin über die Landstraße durch schneeverwehte Mecklenburger Weiten führte, an den alten Rügendamm, zur hoffentlich richtigen Zeit, und dann doch an der geöffneten Brücke wartend. Stattdessen jetzt: Autobahn und Schnellstraße bis kurz vor das Ziel. Einfacher die Anreise, kürzer zumindest in Zeit. Besser für alle, die hier schnell ein paar Augenblicke dem Alltag entfliehen wollen. Besser vielleicht auch für alle hier "oben", die von Gästen und Reisenden irgendwie leben, in immer länger werdender Saison. Aber auch: Man ist weniger allein dort oben, man findet manche gewohnten Bilder nicht mehr, aber immer noch dominiert das Gefühl, einen Schritt aus dem Normalen heraus zu finden, das immer facettenreicher, dichter, sperriger und in vielen Aspekten schwerer wird. Man hofft, dass diese Eigenart dem Ort noch etwas erhalten bleibt, inmitten aller Entwicklungen bis hin zum Skywalk über dem Königstuhl.

Wieder Küste. Die Tage sind entspannter, kehrt man ohne Verpflichtungen an Orte zurück, die man lang und gut kennt. Kein Drang, unbedingt Dinge erleben, Sehenswertes besuchen, Punkte auf der Landkarte abreisen zu müssen. Mehr Zeit, sich auf das andere Hier und Jetzt einzustellen, am Meer zu stehen und das Wasser zu hören. Und je länger man steht, desto tiefer versinkt man mit Blicken und Gedanken in die unsteten Fluten. Durch das flache Wasser entlang der Ufer, dorthin, wo die See von oben betrachtet dunkler und undurchdringlicher wird. Und irgendwann, inmitten von all dem, vor den archaischen Küsten, bekommt man eine ganz ferne Ahnung von Alter und Zeit, bekommt den Hauch eines Gefühls, wie lang Wind, Wellen, See schon diese Welt am Rande der Insel formen. Ein junges Meer, und trotzdem so endlos viel älter als jedes Leben in unserer Vorstellung. Oder andersherum. Und dann spürt man den Wind etwas mehr und kälter, hört das Rauschen der Wasser etwas lauter, fühlt die ganze Größe und Schwere der steilen Kreidefelsen hinter sich, und bekommt eine sehr intensive Wahrnehmung davon, was es heißt, nur zu Gast zu sein.

Wieder abends auf der Brücke, über dem Hafen. Die ganz eigene Faszination der Lichter an diesem Ort. Manchmal die Erinnerung an das erste Foto-Magazin vor mehr als zwei Jahrzehnten. Und die Begeisterung aus dem Artikel über Langzeitbelichtung, Praktica mit Stativ, abends, in Industriegebieten, mit den Farben, die sich finden lassen in der Nacht, zwischen Scheinwerfern, Laternen, halbgedimmten Häusern und Ampeln, die im steten Rhythmus ihre Farben wechseln. Wenn man in einer größeren Stadt lebt, ist Kunstlicht zu allen Nachtzeiten keine große Neuigkeit, und trotzdem wirken Farben und Stimmung anders, haben die Schiffe und Küsten und Inseln zwischen den Booten und Bojen und Leuchttürmen anderes Licht, das fesselt, ebenso vertraut ist wie der Ort, mittlerweile, und einfach "hierher" gehört. Vielleicht also andersherum: Die alte Faszination rötlich beleuchteter leerer Straßen und Kreuzungen, schlafend weit nach der Dämmerung - abgestumpft durch die Großstadt und ihre gewohnten Bilder des Abends und der Nacht - erwacht hier wieder, lebt hier wieder auf. Auch wenn man irgendwann auch in diesen Momenten vom Fotografen zum Beobachter wird, nicht mehr mitschneidet, sondern nur zuschaut, für den Moment, für sich.

Wieder zu viel Gepäck in den Taschen. Immer. Und dabei ist in den letzten Jahren immer mehr Ausstattung zu Hause geblieben. Nur noch Smartphone statt Kamera und Objektive. Kein Stativ mehr. Weniger Bücher, weil man sich ohnehin eher Zeit zum Beobachten und Schreiben nimmt als zum Lesen. Am Ende bleibt immer die Frage: Wieviel Shirts, Hosen, Schuhe braucht man auf dem Trip, braucht man überhaupt? Deutlich weniger als gedacht, insbesondere an der See, an der man die Zeit fast ausnahmslos draußen verbringt, zwischen Sand, Steinen und Wind lebt für den Moment, kaum Erfordernisse an Abend- oder Ausgeh-Garderobe hat. Vielleicht belügt man sich selbst, wenn man in solchen Momenten den Begriff "Minimalismus" durch den Kopf geistern und nach einem Ausgang suchen spürt. Aber vielleicht ist auch diese schleichende Beschränkung auf "weniger" ein Prozess, in dem man lernt und übt - und der gut ist, für vieles und für einen selbst. 

Wieder zurück, im vertrauten Umfeld und im Alltag. Wie jedes Jahr ist die Zeit kurz, in der aus verhaltener Vorfreude fast schon wehmütige Erinnerung wird. Es bleiben Bilder, tatsächliche und solche vor dem inneren Auge. Es bleibt der Gedanke an Wind in den Haaren, das Rascheln der Steine in den zurückrollenden Wellen, die Stille unter den hohen Buchen oben am Rande der Steilküste. Es bleiben zuhauf Unsortiertes und Angedachtes, das mit auf der Reise war, mit zurückgekehrt ist, sich dann und wann in den Alltag schleicht. Es bleibt Dankbarkeit, für das Privileg der Reise, die sichere Rückkehr. Für die Momente außerhalb des Normalen, in dem man schnell genug wieder abtaucht und weit genug weg treibt. Und sicher sind dieses Wegtreiben, der Abstand des Alltäglichen von diesen Orten sehr weit das, was den Zauber dieser Küsten ausmacht, auch nach all den Jahren...

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